"Armer Mann und reicher Mann / standen da und
sah'n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär' ich nicht arm, wärst du nicht
reich". Diese Zeilen schrieb Bertolt Brecht während des Zweiten Weltkriegs.
Die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa und in den USA ist heute so groß wie
zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die reichsten zehn Prozent der Österreicher
besitzen über 54 Prozent des Geldvermögens und über 61 Prozent des
Immobilienvermögens.
Die ungleiche Verteilung des Wohlstandes ist keineswegs nur für die Ärmsten
problematisch. Durch Ungleichheit geht es der gesamten Gesellschaft in sozialer
und gesundheitlicher Hinsicht schlechter, hat der britische Sozioökonom Richard
Wilkinson herausgefunden. In reichen, aber eher gleichen Gesellschaften treten
Selbstmorde, Teenager-Schwangerschaften, Gefängnisstrafen oder auch psychische
Erkrankungen deutlich seltener auf als in ungleichen.
Ist es auch wirtschaftlich sinnvoll, möglichst wenig Ungleichheit in einer
Gesellschaft zu haben? Wie viel Ungleichheit hält eine Gesellschaft aus?
Arm und reich
Durchschnittlich verdient man in Österreich 2.291 Euro im Monat -
brutto. Das oberste Viertel der männlichen Angestellten verdient über
4.400 Euro brutto, 14 Mal im Jahr. Das unterste Viertel der
Arbeiterinnen, verdient weniger als 940 Euro brutto. Die Armutsgrenze
liegt bei 951 Euro - netto. 12 Mal im Jahr. Armut kann man definieren.
Ab welchem Einkommen man als reich gilt, lässt sich nicht so leicht
beantworten.
Fest steht, dass die Einkommensunterschiede in den letzten 100 Jahren
geringer wurden, erklärt Sir Anthony Atkinson. Der britische
Einkommensverteilungsexperte lehrte in Cambridge, an der London School
of Economics und am Bostoner MIT, er berät politische Institutionen,
unter anderem die EU. Durch den Wohlfahrtsstaat wurde die krasse Kluft
zwischen Arm und Reich kleiner.
In Österreich gibt es seit 1909 ein Pensionssystem, in den USA seit den
1930er Jahren. Der Wohlfahrtsstaat hat zu einer Annäherung der Einkommen
geführt. Die Einkommen der Reichsten sind gesunken, die der Ärmeren sind
gestiegen. Doch trotz der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ist die
Verteilung der Einkommen in den letzten 30 Jahren wieder ungleicher
geworden. Seit den 1980er Jahren hat sich die Schere zwischen Arm und
Reich in Europa und den USA stark aufgetan, erklärt Sir Anthony
Atkinson.
Vor der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren waren die Einkommen
sehr ungleich verteilt. Bis in die 1980er Jahre haben sich die Einkommen
angenähert, die Schere zwischen Arm und Reich wurde kleiner. Seit den
frühen 1980er Jahren hat sich die Einkommensverteilung in Europa und den
USA, aber auch in Japan wieder stark auseinander entwickelt. Im Jahr
2006 lagen die Spitzengehälter in den USA 77-mal höher als die
Durchschnittseinkommen. Die Einkommen sind, so das Ergebnis einer Studie
von Sir Anthony Atkinson und Thomas Picketty, heute wieder so ungleich
verteilt wie vor der Weltwirtschaftskrise 1929.
Die wahre Kenngröße für Reichtum ist nicht das Einkommen. Denn das
Einkommen ist flexibel, es kann wegfallen - etwa durch Jobverlust. Die
wahre Kenngröße für Reichtum ist das Vermögen.
Die jüngsten Studienergebnisse von der Österreichischen Nationalbank
ergeben, dass die reichsten zehn Prozent der Österreicher über 54
Prozent des Geldvermögens besitzen. Und den reichsten fünf Prozent
gehören fast so viel an Immobilienvermögen wie dem gesamten Rest der
Bevölkerung, berichtet Studienautor Martin Schürz.
Ebenfalls eine Studie der Österreichischen Nationalbank hat den
Unternehmensbesitz in Österreich unter die Lupe genommen. So gehören
etwa die Top 10 Prozent der Besitzer rund 92 Prozent der GmbHs in
Österreich.
Die Konzentration des Vermögens bei den Reichsten ist in den USA noch
viel stärker: ein Prozent der privaten Haushalte in Amerika besitzt ein
Drittel des gesamten Vermögens.
In den 1930er Jahren bemühte sich Präsident Franklin D. Roosevelt um die
Einführung einer Erbanfallsteuer, zusätzlich zur damals bereits
existierenden Nachlasssteuer. Der Steuersatz lag bei Nachlässen von über
50 Millionen Dollar bei heute kaum vorstellbaren 70 Prozent, da
Roosevelt in einer dynastischen Vermögenskonzentration eine Gefahr sah.
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist heute so groß wie zu Beginn des 19.
Jahrhunderts. Manche Stimmen behaupten, dass die große Ungleichheit
zwischen den Obersten und den Untersten schuld an der Wirtschaftskrise
sei. Denn wenn die Bevölkerung eines Landes zu wenig Geld hat, wird auch
zu wenig konsumiert. Der Wirtschaftskreislauf gerät somit ins Stocken.
Es sei denn das Wirtschaftswachstum wird mit Exporten am Leben gehalten.
Dann konsumiert die Bevölkerung eines anderen Landes anstatt der
inländischen. Genau das ist in Deutschland passiert: Die Löhne wurden so
niedrig gehalten, dass der Konsum in Deutschland stockte.
Nicht zufällig ist die Bundesrepublik Exportweltmeister. Das andere
Land, das importierende, muss aber Schulden aufnehmen, um seinen
übermäßigen Konsum bezahlen zu können. So entstehen große
Ungleichgewichte in der Welt. Die USA sind verschuldet, vor allem bei
China. Dafür hat China zu hohe Dollar-Reserven. Deutschland hat zu viel
exportiert und die Deutschen haben zu wenig konsumiert. Und jetzt, wo
die Rezession eingesetzt hat, liegt die Frage nahe, wer den Schlamassel
zu bezahlen hat - auch in Österreich.
Die Verteilung des Wohlstands ist nicht gerecht, ist Martin Schenk
überzeugt. Es wäre daher die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass
die Kluft zwischen Arm und Reich geringer wird.
Warum vernachlässigen Politiker diese Aufgabe? Warum stellen die
Angleichung der Einkommen und die Umverteilung des Wohlstands nicht
Prioritäten für Politiker dar?
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman hatte schon vor ein paar
Jahren zwei Erklärungsansätze für die Abkehr vom Ziel der
Verteilungsgerechtigkeit formuliert: "Politiker wollen sich weder dem
Verdacht einer Klassenkampfprogrammatik ausgesetzt sehen, noch mit Neid
in Verbindung gebracht werden. Politiker neigen daher immer stärker
dazu, die Interessen der Wohlhabenden zu bedienen."
Text: Rosa Lyon
Buch-Tipps
Hans Kisslinger "Reichtum ohne Leistung. Die feudalisierung der Schweiz", Rüegger Verlag, 2008
Pierre Bourdieu "Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft" Suhrkamp Verlag, übersetzt von Bernd Schwibs & Achim Russer, 1987
Richard Wilkinson & Kate Pickett "Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind", Tolkermitt Verlag bei Zweitausendeins, 2009
Kurswechsel "Macht, Verteilung & Demokratie. Gesellschaftliche Folgen zunehmender sozialer Ungleichheit", Verlag Sonderzahl, 2009
Links
Wifo Studie "Umverteilung durch den Staat in Österreich", 2009
Industriellenvereinigung " Wohlstand, Armut & Umverteilung in Österreich. Fakten und Mythen", 2009
Ö1 Radiokolleg vom 1. bis 4. März 2010
2. März 2010 - Verteilung 2.Teil - Audio
4. März 2010 -Verteilung 4.Teil - Audio